Autoren: Henry Willem Farr und Stefan Trometer
Hochwasser begleitet uns Menschen seit jeher. Die Begradigung von Flüssen, die stetig vorangetriebene Bodenversiegelung und die Zunahme von Extremwetterereignissen, verbunden mit einer dichten Besiedelung, lassen Hochwasserereignisse jedoch zunehmend extremer ausfallen. Das Gefahrenpotential für unsere gesamte Infrastruktur, für unsere Umwelt und nicht zuletzt für uns Menschen ist dadurch erheblich gestiegen.
Um diesen Gefahren zukünftig besser vorzubeugen, bedarf es eines ganzheitlichen, flussgebietsübergreifenden Hochwasserrisikomanagements. Zahlreiche Richtlinien, Verordnungen und Strategien zum Hochwasserschutz existieren bereits. Doch das Thema Hochwasser ist längst nicht mehr nur Experten vorbehalten, sondern ist mit zunehmender Betroffenheit der Bürger in der Öffentlichkeit angekommen. Der Handlungsdruck zum Hochwasserschutz wächst. Betroffene und interessierte Bürger möchten zum Thema Hochwasser aufgeklärt werden und die Risiken verstehen. Dafür braucht es Werkzeuge, die das möglich machen – den Digitalen Zwilling.
In welcher Form kann ein Digitaler Zwilling zum Hochwasserrisikomanagement beitragen und wem nutzt es?
1. Digitale Modellierung von Hochwasserereignissen
Um ein besseres Verständnis für Hochwasser und Hochwasserrisikomanagement speziell im urbanen Raum zu ermöglichen, entwickelte Virtual City Systems zusammen mit dem niederländischen Unternehmen Nelen & Schuurmans eine neuartige Methodik der detaillierten Hochwasserrisikoanalyse. Erstmals werden hier hydrodynamisch-numerische (HN-) Simulationen mit detaillierten, semantischen 3D-Stadtmodellen kombiniert.
Auf Basis unserer VC Map, einer webbasierten Stadtmodellplattform, auf die der Endanwender über einen Browser direkt zugreifen kann, werden Vorgänge von Hochwasserereignissen in 3D abgebildet.
Alle zur Verfügung gestellten und aufbereiteten Daten zum Hochwasserrisikomanagement werden in der VC Map bzw. im Digitalen Zwilling zusammengeführt und für die Definition von Hochwasserszenarien bereitgestellt. Dabei lassen sich beispielsweise temporär errichtete Barrieren aus Sandsäcken oder Spundwänden als Maßnahmen des operativen Hochwasserschutzes im Digitalen Zwilling modellieren und bei der Simulation berücksichtigen. Die wichtigste Grundlage hierfür ist das digitale Geländemodell, wie es beispielsweise vom Bundesamt für Kartographie und Geodäsie erhoben und bereitgestellt wird.
Um Überschwemmungen in hoher Qualität zu simulieren, wird der Datensatz so bearbeitet, dass Hindernisse, wie z. B. der Grundriss von Gebäuden, Brücken und Durchlässen, aber auch das Flussbett selbst in das Geländemodell einbezogen werden.
Weitere wichtige Datensätze sind die Landnutzung und der Bodentyp. Diese Informationen werden in Kombination mit Daten von Straßen und Gebäuden verwendet, um die Infiltrationsrate und die Reibungsrate abzuleiten.
2. Historische oder prognostizierte Läufe des Hochwassermodells
Zur Simulation von Überschwemmungen werden die zuvor genannten Datensätze in die 3Di-Plattform hochgeladen. Diese Simulationsplattform berechnet, wie das Wasser fließt, und löst die vollständigen Saint-Venant-Gleichungen mit Erhaltung der Masse unter Verwendung von Subgrid-, Quadtree- und Cloud-Technologie. Die Niederschlagseingabe kann hierbei über flächigen Regen oder lokalen Regen erfolgen. Nutzer können auch die Niederschlagsvorhersage des Wettermodells ICON D2 des Deutschen Wetterdienstes (DWD) integrieren, um die Auswirkungen bevorstehender Wetterereignisse zu veranschaulichen. Auch die Simulation historischer Ereignisse ist möglich, indem die mit dem Radar beobachteten Niederschlagsdaten von RADOLAN verwendet werden, welche die Validierung des Modells zusätzlich unterstützen.
Vor allem lassen sich aber Starkregenszenarien untersuchen, wie sie vielleicht in der Region, jedoch nicht in jedem Ort aufgetreten sind. Werden diese Ergebnisse in der einfach zugänglichen und selbsterklärenden Webkartenanwendung veröffentlicht, so ermöglicht dies den Rettungskräften und Verantwortlichen vor Ort, sich auf mögliche Szenarien vorzubereiten und im Ernstfall schneller, klarer und zielgerichteter zu reagieren.
Zudem wird eine Grundlage geschaffen, anhand derer genau untersucht werden kann, welche Maßnahmen oder Gestaltungsentscheidungen im öffentlichen Raum dazu beitragen, die Auswirkungen von Hochwasser in Zukunft zu mindern.
3. Vorteile der Visualisierung im Digitalen Zwilling
Die Simulationsergebnisse für ausgewählte Stadtbereiche können, nachdem sie in die VC Map bzw. den Digitalen Zwilling importiert wurden, im Kontext des 3D-Umfelds fotorealistisch als Wasserstand mit Wellen und Reflexionen visualisiert werden. Zudem lassen sich die berechneten Wasserpegel und Fließgeschwindigkeiten für alle Gebäude und Orte auswerten. Auch animierte Filmsequenzen oder virtuelle Rundflüge sind möglich, um die Strömung und die davon ausgehenden Gefahren noch besser zu vermitteln.
Die 3D-Visualisierung im Digitalen Zwilling von Simulationsergebnissen, wie Wasserspiegellagen, Fließgeschwindigkeiten, Wassertiefen und spezifische Abflüsse, bringt viele Vorteile mit sich. Zum einen können betroffenen und interessierten Bürgern Hochwassergefahren anschaulich und verständlich vermittelt und damit einhergehend das Risikobewusstsein gesteigert werden. Zum anderen wird mit dem Digitalen Zwilling und der Visualisierung von Hochwasserszenarien eine bessere Basis zur Information von Entscheidungsträgern geschaffen.
Über die reine Visualisierung hinaus ist es zudem auch möglich, konkrete Hochwasserschäden zu ermitteln. Die Schadensprognosen für ein Hochwasserszenario können für einzelne Gebäude oder sogar für einen ganzen Stadtteil erstellt werden. Dafür wird der Schaden in Abhängigkeit von der Gebäudegrundfläche sowie von der lokalen Wassertiefe kalkuliert. Durch eine detaillierte Attributierung von Gebäuden, z. B. durch Angabe der Personenzahl und der Art der Gebäudenutzung, lassen sich zukünftig auch Evakuierungsmaßnahmen zu bestimmten Hochwasserszenarien besser planen und einschätzen.
Die Koppelung von Digitalen Zwillingen mit hydro-numerischen Simulationen trägt zu einer Weiterentwicklung des modernen Hochwasserrisikomanagements bei. Das beinhaltet eine Risikominimierung für unsere gesamte Infrastruktur, für unsere Umwelt und für uns Menschen. Mit einer realitätsnahen und zweckorientierten 3D-Visualisierung der zentralen Simulationsergebnisse im Digitalen Zwilling kann der Hochwasserschutz nun auch für die Öffentlichkeit verständlich vermittelt werden.