Titelbild © Hochschule Niederrhein
public life – smart measurement ist der Versuch, Gestaltung von öffentlichem Raum, Stadtforschung und Digitalisierung zusammen zu denken. Ausgehend von dieser Problemstellung wurde ein Smart-Measurement-System entwickelt, das die Bewegungsaktivitäten im öffentlichen Raum erfassen kann und für die nutzerorientierte Gestaltung zur Verfügung steht. Als Reallabor für die Messung von Nutzeraktivitäten diente ein neu errichteter Naturspielplatz im Rheydter Stadtwald in Mönchengladbach. Das Projekt wurde aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) von April 2018 bis September 2021 gefördert und von einem interdisziplinären Team der Hochschule Niederrhein mit dem Kompetenzzentrum SOUND und dem Institut für Mustererkennung iPattern sowie der mags (Mönchengladbacher Abfall-, Grün- und Straßenbetriebe AöR) bearbeitet.
1. Nutzerorientierte Stadtraumgestaltung
mit Hilfe von Sensorik
Mit Hilfe von Dynamic Vision Sensorik, der digitalen Verarbeitung der Sensorsignale und unter Einbeziehung von Algorithmen der Mustererkennung mittels künstlicher Intelligenz (Deep Learning) wurde ein Verfahren entwickelt, mit dem das Aufkommen und Verhalten von Nutzer:innen in öffentlichen Räumen ermittelt und visualisiert werden kann. Ziel war es, ein System zu entwickeln, das aufwendige Prozesse der Datensammlung vereinfacht und für Stadtgestaltungsentscheidungen bereit steht. Durch die Datenerhebung wird eine objektivierte Grundlage und Versachlichung für Transformationsprozesse im Stadtraum geschaffen, die es Entscheidungsträger:innen und Bürger:innen erleichtern kann Debatten zu entemotionalisieren. Hierdurch können die Teilhabe und das Vertrauen in politische Prozesse gestärkt und belegbare Qualitätsstandards geschaffen werden, die der Versachlichung der Diskussions- und Entscheidungsprozesse dienen.
Als Reallabor für das Forschungsvorhaben diente eine etwa 3000m² große Fläche im Stadtwald Rheydt in Mönchengladbach, die zusammen mit einer Fokusgruppe und Landschaftsarchitekt:innen von der mags nutzerorientiert geplant und umgesetzt wurde. Dieser Raum kennzeichnet sich dahingehend, dass nur natürliche Materialien wie Sand, Rasenwellen, Steine, Baumstämme o.Ä. als Spielelemente verwendet werden. Ein wesentlicher Bestandteil des Projektes war der Zyklus: analysieren – bauen – testen. Dieser iterativ gestaltete Projektablauf soll dazu beitragen, dynamische Orte zu schaffen, die im Bezug auf das Nutzer:innenverhalten gestaltet und angepasst werden.

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Die von dem Messsystem zu erfüllenden Kriterien sind die Wahrung der Anonymität und der Persönlichkeitsrechte der Menschen, die sich im öffentlichen Raum bewegen. Dies wird dadurch sichergestellt, dass eine personenbezogene Datenerhebung ausgeschlossen wird, indem auf eine klassische Videokamera verzichtet wird. Anstelle eines Sensorsystems, welches im späteren Schritt die erhobenen Daten anonymisiert, gewährleistet die Nutzung der Dynamic Vision Sensorik eine Erhebung von ausschließlich anonymen Daten. Bei dieser Art von Sensor handelt es sich zwar ebenfalls um einen optischen Sensor, jedoch reagieren die einzelnen Pixel des Sensors asynchron auf relative Veränderungen der Lichtintensität, wodurch lediglich die Veränderungen, also die Bewegungen von Personen, in der betrachteten Szene erfasst werden.

Während der dreijährigen Projektlaufzeit wurden Soft- und Hardware-Aufbau umfangreich optimiert, sodass eine kontinuierliche Messung und Sammlung von Daten über die Bewegungsaktivität möglich ist. Die Positionierung der Sensoren (s. Abb. unten) wurde so gewählt, dass durch das Gelände (Bäume, Büsche, Hügel) bedingte tote Winkel so weit wie möglich minimiert werden. Außerdem wurde versucht, alle Bereiche mit mehr als einem Sensor abzudecken.

Grün- und Straßenbetriebe AöR und SOUND, Hochschule Niederrhein

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Die Messungen der drei Sensoren werden anschließend miteinander verknüpft, um die Ergebnisse in einer Übersicht darstellen zu können. Die Daten der drei Sensoren werden in der Vogelperspektive über einem Orthofoto dargestellt (s. Abb. unten). Die Visualisierung der Bewegungsaktivität gibt Aufschlüsse über konkrete Aufenthaltsorte und das Bewegungsverhalten der Nutzer:innen des Spielplatzes, was eine Identifikation von weniger bis stärker frequentierten Bereichen ermöglicht. Die komplexen Ergebnisse sollen Stadtplaner:innen sowie interessierten Bürger:innen offen zugänglich in einem interaktiven Interface zur Verfügung gestellt werden. Eine prototypische Veranschaulichung der Funktionen kann in einem Blogbeitrag auf der Projekt-Website angeschaut werden.

Drohnenaufnahme des Naturerfahrungsraumes verwendet. Visualisierung: iPattern, Hochschule Niederrhein
Im Falle dieses Spielplatzes lässt sich anhand einer mehrmonatigen Messperiode sagen, dass eine deutlich höhere Nutzung im unteren Bereich der Sandfläche, Piratenschlucht und Rasenwellen aufgezeichnet wurde. Hingegen wurde das Strauchlabyrinth im oberen Bereich mäßig genutzt. Aus diesen Ergebnissen resultieren weitere Forschungsfragen: Wie können im nächsten Schritt diese Ergebnisse genutzt und verwertet werden? Inwiefern kann der Ort nutzerorientiert verändert und prototypisch umgestaltet werden? Hier bewegen wir uns weiter in dem Projektzyklus von der Analyse zum Bauen und Testen.
2. Iterative prototypische Prozesse
bei der Gestaltung öffentlicher Räume
Nach einer dreimonatigen Status-Quo-Messung, die als Grundlage für die Referenz notwendig war, hat eine prototypische Veränderung auf dem Naturerfahrungsraum stattgefunden. Diese folgte der Idee des Tactical Urbanism und nutzt kostengünstige und reversible Veränderungen, um deren Auswirkungen in öffentlichen Räumen zu testen. Bewährte Nutzungen im Rahmen eines solchen Prototypen können zu langfristigen Verstetigungen überführt werden. Orte für Änderungsbedarf können präzise identifiziert werden.
Voraussetzung für die Intervention im Rahmen des Forschungsprojektes war der Bezug zum Naturspielplatz. Um den weniger frequentierten Bereich des Strauchlabyrinths attraktiver zu machen, wurden blaue, wie ein Bachlauf wirkende Holzschnitzel ausgelegt. Ziel der temporären Intervention war es herauszufinden, ob sich Bewegungsmuster, die zuvor identifiziert werden konnten, verändern und andere Bereiche auf dem Spielplatz, wie das Strauchlabyrinth, nun stärker genutzt werden.

Die Messungen nach der Intervention bestätigten die Annahme, dass durch das bewusste Lenken der Nutzer:innen in das Strauchlabyrinth eine sichtbar höhere Nutzer:innenaktivität in dem Bereich gemessen wurde als zuvor. Diese Erkenntnis kann dazu genutzt werden, langfristige Veränderungen wie einen Bachlauf zu integrieren oder weitere naturnahe Elemente, die die Aufmerksamkeit der Nutzer:innen anregen, in weniger genutzte Bereiche zu bauen.

Visualisierung: iPattern, Hochschule Niederrhein
3. Vor- und Nachteile digitaler
und analoger Stadtraumanalyse
Einer der Leitsätze des Projektes war, dass wir zuerst auf uns als Menschen und unsere Intuition vertrauen und dann dem Algorithmus. Das bedeutet, dass die Erkenntnisse aus den digitalen Messungen maßgeblich in unser Handeln und in Entscheidungen einfließen, den Daten jedoch nicht blind vertraut wird.
Auf Grundlage dessen wurde im Rahmen des Projektes der Spielplatz ebenfalls analog beobachtet, um zusätzlich zur Evaluation der digitalen Bewegungsmuster, die Atmosphäre einzufangen und zu verstehen, wie der Ort genutzt wird. Vorteile waren, dass das natürliche Nutzerverhalten der Kinder vor Ort direkt und mit vielen zwischenmenschlichen Nuancen festgehalten werden konnte. Gerade in Zusammenhang mit den Aspekten der Gruppenbildung und -dynamik offenbart eine analoge Beobachtung Aspekte, die die digitalen Messungen im derzeitigen Entwicklungsstand noch nicht zeigen. Bei der Beobachtung konnten – sich deckend mit den digital erzeugten Ergebnissen – klare Hotspots ausgemacht werden: Die Piratenschlucht, die dazu einlädt mit Stöcken Staudämme zu bauen und das Klettergerüst wurden in größeren Gruppen genutzt.
Auf der anderen Seite wurde der gesamte räumliche Kontext beobachtet. So haben beispielsweise einige Kinder das nahegelegene Fußballtor, was nicht mehr im Blickfeld der Sensoren liegt genutzt, um dort Pause zu machen.

Die vom Menschen durchgeführte Beobachtung gibt nicht nur die Möglichkeit, den Kontext ganzheitlicher zu erfassen, sondern bietet zudem die Möglichkeit, die Atmosphäre eines Ortes zu begreifen, die elementar für das Verstehen eines Ortes und Umfeldes ist. Dies kann eine digitale Analyse aus Datenschutzgründen meist nicht leisten, da es immer Teilräume geben muss, die keiner automatisierten Beobachtung ausgesetzt sind. Von erfahrenen Beobachter:innen können Zwischentöne erfasst werden, wie z.B. das kooperative Zusammenarbeiten unter den Kindern beim Tragen von Baumaterial wie Ästen oder dem gegenseitigen Helfen beim Balancieren über Stämme. Dies sind Aspekte, die ein digitales Tool nicht abdecken kann, auch aus dem Grund, da verändertes statisches Baumaterial nicht durch die Dynamic Vision Sensorik aufgezeichnet wird. Allerdings bleibt eine vom Menschen durchgeführte Beobachtung auch immer eine subjektive Beobachtung mit unbewussten kognitiven Verzerrungen.
Digitale Werkzeuge bieten vor allem das Potenzial für langfristige und objektivierbare Raumnutzungsanalysen. So entstehen neue Chancen für die Entwicklung und Planung von Lebensräumen, die an den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet sind. Durch den Einsatz neuer digitaler Stadtraumanalyse-Tools, wie z.B. Systemen mit dem Dynamic Vision Sensor, entstehen fundierte Erkenntnisse über einen Stadtraum, die sowohl für Planer:innen als auch Entscheidungsträger:innen und Bürger:innen wichtig sind.

Hochschule Niederrhein
Das Projekt hat gezeigt, dass bewährte analoge Methoden mit neuen smarten digitalen Möglichkeiten zu einer hybriden Lösung verbunden werden müssen. Dabei gilt es, die quantitativen und die qualitativen Vorteile digitaler und analoger Analyseverfahren gründlich abzuwägen. Systeme digitaler Stadtraumbeobachtung werden noch intensive Weiterentwicklung benötigen, um Daten liefern zu können, die die komplexen Beziehungen abbilden, die zwischen Menschen und Räumen bestehen.
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