Bildnachweis Titelbild: © iStock den-belitsky
Die Liste umstrittener Großprojekte in Deutschland ist lang: Ob Stuttgart 21, der Hauptstadtflughafen BER oder der Leipziger City-Tunnel – sie alle hatten mit Verzögerungen, Planungsschwierigkeiten und Widerständen innerhalb der Bevölkerung zu kämpfen. Die Folge: Verzögerungen der Projekte und eskalierende Kosten. Die damit einhergehenden Konflikte haben das Potenzial, ganze (Stadt-)Gesellschaften zu spalten. Informelle Beteiligungsformate wie Bürgerdialoge, Runde Tische oder Zukunftswerkstätten sollen deshalb im Vorfeld für Transparenz sorgen, die Menschen einbinden und die unterschiedlichen Vorstellungen konstruktiv zusammenführen.
Aber auch formelle Beteiligungsprozesse spielen in diesem Rahmen eine wichtige Rolle und sind daher nicht nur in der Bauleit-, Landes- oder Regionalplanung, sondern auch im Rahmen der Planfeststellungsverfahren von Groß- und Infrastrukturprojekten wie Stromtrassen, Autobahnen, Wasserwegen oder Tunneln gesetzlich vorgeschrieben.
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Planfeststellungen fungieren hier als Genehmigungsverfahren, anhand derer die planenden Behörden abschließend und mit umfassender Rechtswirkung über den Bau entscheiden. Träger öffentlicher Belange wie Behörden und Verbände oder auch Privatpersonen sollen sich mit ihren spezifischen Belangen und Interessen in die Ausgestaltung des Vorhabens einbringen können. Ziel ist es, die gegen ein geplantes Projekt vorgebrachten Einwendungen inhaltlich und juristisch zu prüfen. Bei jedem vorgebrachten Argument muss genau abgewogen werden, ob es eine Planänderung rechtfertigt, ganz gleich, ob dahinter Gemeinwohl- oder Partikularinteressen stehen.
Je größer ein Infrastrukturvorhaben, desto höher natürlich auch die Beteiligung und die Anzahl eingehender Einwendungen. Bei Projekten wie Stromtrassen oder Autobahnen bedeutet das schnell mehrere zehntausend Einwendungen – im Fall des BER waren es sogar über 130.000 –, die alle gelesen, ausgewertet und fachlich-rechtssicher beantwortet werden müssen.¹ Nicht nur die schiere Anzahl stellt die Verantwortlichen vor große Herausforderungen. Gerade Einwendungen von TöB sind häufig fachlich anspruchsvolle, viele Seiten umfassende Dokumente, die unterschiedliche Aspekte des Planungsvorhabens betreffen können.² Fachliche Fehler oder Inkonsistenzen in der Beantwortung ziehen schnell Rechtsstreite nach sich, die wiederum das ganze Projekt verzögern können.
Zu Zahl und Umfang der Stellungnahmen kommt hinzu, dass wichtige interne Prozesse zur Koordinierung der Abteilungen und Beantwortung der Einwendungen teils noch manuell erfolgen. Die in Schriftform eingehenden Einwendungen müssen in PDF-Dateien gescannt und anschließend in eine Datenbank überführt werden, erst dann ist eine digitale Weiterbearbeitung möglich. Anschließend werden sie gelesen und in einzelne Themen bzw. Argumente aufgeteilt, eine Aufgabe, die oft von einzelnen Personen mit viel Fachkenntnissen und dem erforderlichen Überblick übernommen werden muss. Nach der Zuweisung an die Fachabteilungen werden sie dort schließlich individuell beantwortet. Bei mehrseitigen Stellungnahmen müssen die Erwiderungen am Ende in Form von Synopsen wieder zusammenfließen, damit den Einreicher*innen gesammelt geantwortet werden kann. Eine besondere Herausforderung: leicht abgewandelte Serienbriefe, die – neben der berechtigten Einwendung zu einem Vorhaben – von Bürgerinitiativen auch strategisch genutzt werden, um mit den Beteiligungen auch die Projekte insgesamt zu verzögern. Angesichts all dessen lässt sich leicht erahnen, wie zeit- und personalintensiv Beteiligung ist. Verantwortliche für große Beteiligungen berichten, wie sich Dutzende Mitarbeiter*innen der Fachabteilungen teils für Wochen nahezu abschirmen und sich gemeinsam den Tischen voller Aktenordner widmen.
Die gute Nachricht ist: Viele der beschriebenen Schritte lassen sich digital vereinfachen – Künstliche Intelligenz ist hier das Stichwort. Sie eröffnet vollkommen neue Möglichkeiten zur Verschlankung und Beschleunigung des Bearbeitungsprozesses.
Künstliche Intelligenz – von Mustern zum Verständnis
Unter dem Begriff Künstliche Intelligenz (KI) werden Verfahren zusammengefasst, die versuchen, intelligente Entscheidungsstrukturen des Menschen nachzubilden, um so möglichst eigenständig Probleme zu lösen. Grundlage dieser Verfahren ist die Analyse von Daten und die Suche nach Regelmäßigkeiten und Mustern.
Für den Bereich Beteiligung ist vor allem das sogenannte Natural Language Processing (NLP) zentral, denn es geht um die Analyse von Text – viel Text. NLP erfasst natürliche Sprache und macht sich Texte als Zeichenketten, die in Sätze und Wörter zerlegt und in ihrer Beziehung zueinander analysiert werden, zugänglich.³ Die zwischen den einzelnen Wörtern, ja ganzen Sätzen gefundenen Beziehungsmuster machen die KI “textverständig”. Je mehr Text vorliegt, je größer also die Datengrundlage ist, desto mehr Muster lassen sich finden und desto besser und zuverlässiger können passende Modelle zur Erkennung trainiert werden. Von der Mustererkennung und der Klassifizierung von Absätzen und Abschnitten als zu einem bestimmten Thema gehörig ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, um den Arbeitsalltag der Beteiligungsabteilungen wesentlich zu vereinfachen.
Wie Künstliche Intelligenz die Fachlichkeit unterstützen wird
Das große Potenzial der KI für Beteiligung liegt darin, eine Vielzahl der manuell durchzuführenden Prozessschritte, vor allem die Digitalisierung der Einwendungen oder das zeitaufwendige Lesen zu organisatorischen Zwecken, spürbar zu verschlanken.
Die KI kann dank visueller Analyse Textboxen erkennen, ihren Inhalt bekannten Box-Typen zuordnen und entsprechend digitalisieren. Texte, Absenderdaten, das Datum, die Zuständigkeit und die angehängten Dokumente werden dann in passender Form in die Datenbank übernommen. Die PDF als “halbe”, textlich nicht verarbeitbare Digitalisierungsform ist damit nur noch eine Übergangsstufe hin zu einem vollständig, durch den Computer nutzbaren Text.
Da die KI thematische Sinneinheiten erkennt und sie mit Themen-Labeln versehen kann, vereinfacht sie die Aufteilung des Textes und die Zuweisung der Abschnitte an die einzelnen Fachbereiche. Der “Flaschenhals” eines einsamen, in seinem Überblickswissen nur schwerlich ersetzbaren Experten oder einer Expertin, der oder die alle Einwendungen lesen und aufteilen muss, entfällt damit.
Auch Serienbriefe lassen sich dank NLP ganz einfach identifizieren. Identische und sehr ähnliche Einwendungen können nach der Erkennung gruppiert und zur gemeinsamen Beantwortung zusammengefasst werden. In abgewandelten Serienbriefen markiert die KI differierende Argumente, einzelne Zahlen oder Wörter, übernimmt also den aufwendigen Teil der Analyse, so dass sich der oder die jeweilige Mitarbeiterin voll auf die Beantwortung konzentrieren kann.
Mit dem Wort- und Textverständnis kommt auch die Möglichkeit, personenbezogene Daten zu erkennen und zu verarbeiten. Namen und Anschriften lassen sich so leicht automatisiert schwärzen oder pseudonymisieren, das händische Durchsuchen der Dokumente entfällt.
KI kann aber noch weitergedacht und als permanent lernendes System implementiert werden. Die Antworten der Fachexpert*innen auf bestimmte Argumente werden so selbst wieder zu analysierbaren Daten, aus denen die KI lernen kann. Als Ergebnis kann sie den bearbeitenden Kolleg*innen Antwortbausteine vorgeschlagen, die ein Neuschreiben oder ein Copy & Paste aus anderen Erwiderungen überflüssig machen. Aus den anschließenden manuellen Verifizierungen und Anpassungen lernt die KI wiederum für die nächsten Vorschläge. Die so über mehrere Mitarbeitende hinweg etablierten Feedbackschleifen aus Einwendung und Erwiderung sorgen so auch für eine höhere Konsistenz in den Abwägungen.
Fazit
Das Textverständnis Künstlicher Intelligenz ist also der zentrale Schlüssel, um viele manuelle Prozesse zur Auswertung von Einwendungen wesentlich zu vereinfachen. Was damit frei wird, ist kostbare Zeit, die stattdessen in die eigentlich wichtige Arbeit fließen kann: die Abwägung und Beantwortung der Einwendungen. Dies übersetzt sich automatisch in höhere Qualität und Konsistenz, damit weniger verfahrensverzögernde Rechtsstreite und so schnellere Projektrealisierungen als Ergebnis.
Und genau dies ist wichtig für uns alle, denn ein dicht besiedeltes Industrieland wie Deutschland braucht gesellschaftlich breit getragene und zügig ausgeführte Infrastrukturprojekte. Digitalisierung, Energiewende, sich verändernde Anforderungen an Mobilität – wichtige Zukunftsherausforderungen sind daran gekoppelt. Je schneller wir die Grundlagen hierfür schaffen, desto besser.
- ¹ Tagesspiegel 23.09.2020: Gereizte Stimmung bei Gigafactory-Anhörung
- ² Das Besondere an Planfeststellungsverfahren ist die sogenannte “Konzentrationswirkung”. Planfeststellungsbeschlüsse ersetzen alle anderen, normalerweise durch einzelne Behörden zu erteilenden Genehmigungen. Diese müssen also den aktuellen Regelungen ihres Aufgabenbereichs im Rahmen der Beteiligungsprozesse Geltung verschaffen.
- ³ Was ist Natural Language Processing?
Weitere Informationen
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