Autor:innen: Prof. Dr. Christoph Bieber, Anouk Cenan
Die Erneuerung der Demokratie beginnt oft im Verborgenen – seit mehreren Jahrzehnten sind die Kommunalverwaltungen Orte für Ideen und Innovationen, doch fristen sie ein Nischendasein in den breit geführten Diskussionen um die digitale Modernisierung von Politik und Gesellschaft. Das Forschungsprogramm „Digitale Demokratische Innovationen“ am Bochumer „Center for Advanced Internet Studies“ (CAIS, cais-research.de) beschäftigt sich sowohl mit Fragen zur Zukunft des urbanen Raums als auch mit neuen Formen politischer Entscheidungsfindung.
Das interdisziplinäre Team unter Leitung von Prof. Dr. Christoph Bieber hat sich zuletzt mit dem Feld der „Digitalen Ratssysteme“ auseinandergesetzt – diese nur selten in den Hochglanz-Foren der öffentlichen Debatte sichtbaren Software-Anwendungen helfen Kommunalverwaltungen dabei, die Abläufe im Umfeld von Gemeinderatssitzungen zu automatisieren und die anfallenden Dokumente digital zu verarbeiten. Das klingt auf den ersten Blick wie ein Besuch in den Niederungen der Digitalisierung, ist aber ein sehr relevanter Teilbereich einer Verwaltungsmodernisierung, der große Folgen für die Amtsstuben in ganz Deutschland hat.
Der nachfolgende Artikel dokumentiert eine Bestandsaufnahme zur Nutzung von Digitalen Ratssystemen in Nordrhein-Westfalen und kann zeigen, dass alle untersuchten Gemeinden eine entsprechende Software-Lösung einsetzen. Neben Tendenzen einer zögerlichen Nutzungspraxis ergeben sich auch interessante Einblicke in die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen für die kommunale Verwaltungsmodernisierung. Im Sinne einer angewandten Digitalisierungsforschung zielt das CAIS auf den Austausch mit den Akteuren der kommunalen Digitalisierung, um wissenschaftliche Expertise stärker mit der gestaltungsorientierten Verwaltungspraxis zu vernetzen.
1. Wie setzt sich der Datenkorpus zusammen?
In einer auf Nordrhein-Westfalen beschränkten Bestandsaufnahme wurde aus den insgesamt 396 politisch selbstständigen Gemeinden eine Auswahl getroffen: Untersucht wurden 22 „kreisfreie Städte“, 35 „große kreisangehörige Städte“ sowie als Sonderfall die „regionsangehörige Stadt“ Aachen. Um jedoch keinen zu starken Schwerpunkt auf die Großstädte mit differenzierter Verwaltungsbürokratie zu legen, wurden mittels einer Zufallsauswahl 15 kleinere Gemeinden ergänzt, die den Gruppen „mittlere kreisangehörige Städte“, „sonstige kreisangehörige Städte“ und „sonstige Gemeinden“ angehören. Dabei wurde auch die Verteilung auf die fünf Regierungsbezirke (Düsseldorf, Köln, Münster, Arnsberg, Detmold) beachtet. Aus der Kombination dieser Auswahlen resultiert ein Basis-Datensatz mit insgesamt 73 Kommunalverwaltungen. Erhoben wurden die Daten im Sommer 2023, Stand des letzten Abgleichs ist der 15. August 2023.
2. Digitale Ratsinformationssysteme erklärt
In erster Linie sollen Ratsinformationssysteme die Arbeit von Gemeinderäten durch die Bereitstellung von Sitzungsinformationen und die Sammlung von Daten in der Verwaltung unterstützen. Darüber hinaus soll auch der Austausch mit der Öffentlichkeit verbessert und generell mehr Transparenz in der öffentlichen Verwaltung ermöglicht werden. Digitale Ratsinformationssysteme (DRS) machen die Arbeit der Kommunalverwaltung über Intranet-Lösungen für Verwaltung und Gremien verfügbar, informieren Bürger:innen via Internet und bieten inzwischen immer häufiger auch einen Zugang über Apps. Idealerweise decken Ratsinformationssysteme alle Phasen der Gemeinderatsarbeit von der Entscheidungsvorbereitung bis zur Archivierung ab. Als neues Feature werden von einigen Softwareunternehmen seit kurzem Systeme für digitale Abstimmungen in Ratssitzungen angeboten – für diese Funktionen gibt es bislang jedoch noch keine validen Erfahrungen aus der kommunalen Praxis.
3. Darstellung der Einzelergebnisse
Die Bestandsaufnahme hat ergeben, dass alle 73 Gemeinden ein digitales Ratsinformationssystem verwenden. Allerdings nutzen die Kommunen unterschiedliche Softwarelösungen. Die beiden Platzhirsche sind die Unternehmen Sternberg Software aus Bielefeld und Somacos aus Salzwedel, die für insgesamt 53 Gemeinden (72,6 Prozent) ihre Software anbieten. Somacos hält mit 28 Kommunen (38,3 Prozent) den etwas größeren Anteil als Sternberg, die in 25 Gemeinden (34,2 Prozent) aktiv sind.
Weitere 9 Städte (12,3 Prozent) nutzen die technischen Lösungen der Firma CC e-Gov. Die restlichen Kommunen greifen auf Systeme der Firmen more! Software (9,6 Prozent), Provox Systemplanung (4,1 Prozent) und WRS Softwareentwicklung (1,4 Prozent) zurück.
Um die Teilhabe der Öffentlichkeit an den Ratssitzungen zu gewährleisten, greifen einige Gemeinden auf die digitale Übertragung und Bereitstellung von Bild- und Tonaufzeichnungen der Sitzungen zurück. Diese Aufnahmen werden von insgesamt 24 Kommunen (32,9 Prozent) über die Internet-Angebote der Gemeinden (z.B. Website, YouTube-Kanal) für die Öffentlichkeit bereitgestellt. Einzig die Stadt Marl veröffentlicht ihre Ratssitzungen als Podcast.
Der größte Teil der untersuchten Gemeinden bietet jedoch keine digitalen Aufnahmen ihrer Ratssitzungen an (65,8 Prozent). Von diesen 45 Kommunen haben zum Zeitpunkt der Datenerhebung drei Städte eine zeitlich begrenzte Testphase von Live-Aufnahmen der Ratssitzungen beschlossen.
Für die Übersicht über die Nutzung digitaler Ratsarbeit wurde außerdem die Verbreitung von digitalen bzw. hybriden Ratssitzungen untersucht. Unter den betrachteten Kommunen konnte bislang jedoch keine Gemeinde ausfindig gemacht werden, die auf regelmäßiger Basis digitale Sitzungen des Rates durchführt.
Allerdings haben sich sieben Städte (9,6 Prozent) am „Modellprojekt für digitale und hybride Ratssitzungen“ beteiligt, das technische und rechtliche Grundlagen für die Einführung digitaler Ratssitzungen in Nordrhein-Westfalen liefern sollte. Das Projekt wurde auf Initiative des Landtags im Zeitraum von September bis Dezember 2021 durch das NRW Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung organisiert. Ziel des Modellprojekts war einerseits, geeignete Tools zur Unterstützung der Ratsarbeit zu identifizieren, andererseits wurde auf Basis der Erfahrungen in den Modellkommunen ein Anforderungskatalog entwickelt. Ein wesentliches Resultat war dabei die Feststellung, dass kein System in der Lage war, alle Erfordernisse im Sitzungsprozess zu erfüllen – stattdessen erfolgte die Empfehlung, auf eine Kombination von getrennten Anwendungen für die Sitzungsübertragung und die Durchführung von Abstimmungen zu setzen. Und ganz offensichtlich regiert immer noch die Vorsicht in den Stadtverwaltungen: die Teilnahme am Modellprojekt hat nicht zu einer Erhöhung der digitalen Aktivitäten geführt – auch in keiner der Pilot-Gemeinden stehen hybride oder volldigitale Sitzungen vor der Rathaustür.
An anderer Stelle wenden sich die Gemeinden jedoch moderneren Vermittlungsformen der Ratsarbeit zu: Neben den digitalen Ratsinformationssystemen, die auf den städtischen Internetseiten zu finden sind, bieten viele Softwareunternehmen auch Apps als Ratsinformationssysteme an. Von den 73 untersuchten Gemeinden bieten 23 Städte (31,5 Prozent) eine solche App für die Darstellung ihrer Ratsarbeit an. Bei der Nutzung der Ratsinformationsapps nach Herstellern fällt auf, dass nicht alle Anbieter der Ratsinformationssysteme vertreten sind. Von den meisten Gemeinden, die eine App verwenden, wird auf das System der Sternberg GmbH zurückgegriffen (16 Gemeinden bzw. 69,6 Prozent). Zudem bieten die Unternehmen CC e-gov und more! Software jeweils eine Ratsinformations-App an, die von 4 bzw. 2 Städten genutzt wird. Die Stadt Hamm, die auf das Ratsinformationssystem der Firma WRS Softwareentwicklung zurückgreift, verwendet ebenfalls die zugehörige App. Die App-Entwicklung bei der Firma Somacos, die für die meisten Gemeinden (28 Kommunen) ein Ratsinformationssystem bereitstellt, war zum Zeitpunkt der Datenerhebung noch nicht abgeschlossen.
4. Diskussion der Ergebnisse
Die Bestandsaufnahme zur digitalen Ratsarbeit in 73 von 396 eigenständigen Kommunalverwaltungen in Nordrhein-Westfalen zeigt gut zwei Jahre nach dem Ausklingen des Sonderzustandes der COVID-19-Pandemie eine allenfalls verhaltene Digitalisierungsdynamik. Immerhin: die Nutzung digitaler Ratssysteme mit der doppelten Ausrichtung auf die Optimierung interner Verwaltungsprozesse bei gleichzeitiger digitaler Information der lokalen Öffentlichkeit ist zum Standard geworden, auch bei kleineren Gemeinden und über alle Landesteile hinweg. Sicherlich wäre dies im Detail noch weiter zu prüfen, dabei könnte sich auch eine feinere Differenzierung in der Verteilung der Software-Pakete zeigen. Nicht nur deshalb ist die auf kommunale Digitalversorgung spezialisierte Unternehmenslandschaft ein interessanter Gegenstand zur vertiefenden Feldforschung.
Denn im Anschluss an die Bestandsaufnahme bleiben noch weitere Fragen vor allem zu der zögerlichen Ausschöpfung der Potenziale digitaler Anwendungen in der kommunalen Ratsarbeit offen. Obwohl von Seiten der Landespolitik erste Grundlagen für die Einführung digitaler Sitzungen geschaffen worden sind, scheinen neben rechtlichen Bedenken noch andere Aspekte für die verhaltene Nutzung digitaler Angebote verantwortlich zu sein, über die vorerst nur spekuliert werden kann.
5. Einladung zum fachlichen Online-Austausch am 14. Februar
Das Ziel einer angewandten Digitalisierungsforschung am CAIS ist der Austausch mit interessierten Akteuren der kommunalen Digitalisierung. Dabei soll der Kontakt mit innovativen Projekten und Teams hergestellt und transferorientierte Forschung unmittelbar in eine gestaltungsorientierte Verwaltungspraxis eingebettet werden. Im Rahmen eines solchen Austauschs sind zum Beispiel folgende Fragen relevant:
- Welche Rolle spielen Budget- und damit verbundene Personalfragen für die Kommunen?
- Werden kommunale Ratssysteme auch in weiterreichende Initiativen wie etwa Smart City-Projekte eingebunden?
- Verbessern Ratssysteme den Dialog zwischen Bürger:innen und Verwaltung?
- Und natürlich: Wie schwer wiegen Vorbehalte hinsichtlich der Sicherheit digitaler Anwendungen im Kontext steigender Cyberkriminalität gegenüber öffentlichen Einrichtungen?
Um über diese und weitere Themen zu diskutieren, laden wir für den 14. Februar 2024 zu einer fachlichen Online-Diskussion mit Prof. Dr. Christoph Bieber und Anouk Cenan vom Center for Advanced Internet Studies (CAIS) ein.
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Prof. Dr. Christoph Bieber
Prof. Dr. Christoph Bieber leitet das interdisziplinäre Forschungsprogramm „Digitale Demokratische Innovationen“ (DDI) am Center for Advanced Internet Studies (CAIS) in Bochum. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Wahlkämpfe und Wahlorganisation, öffentliche Kommunikation und digitale Ethik. Mehr erfahren Sie hier.
Anouk Cenan
Anouk Cenan ist studentische Mitarbeiterin im Forschungsprogramm „Digitale Demokratische Innovationen“ (DDI) und hat die Recherche zu digitalen Ratssystemen in NRW betreut.